Die Zirkusaufführung als Metapher für die Geschehnisse in der Welt drängt sich mir richtiggehend auf: Publikumsbeteiligung ist oft ebenso wenig vorgesehen wie bei Pippis Zirkusbesuch. In unseren Schulen beobachte ich selten einladende Signale an die jungen Menschen, sich als ganzheitliche Persönlichkeiten einzubringen. Vielmehr ist die Vorgabe, klare, eng gefasste Aufgaben zu erfüllen und zwar möglichst so, dass die Ergebnisse «zentral» verglichen werden können. An nicht wenigen Arbeitsplätzen sehen Betriebe Menschen vor, die möglichst reibungslos funktionieren, die regulierbar und kontrollierbar sind. Da sitzen wir festgeschnallt oder eingesperrt in unserem persönlichen Zirkus des Lebens und haben einen faden Geschmack auf der Zunge. Was uns durchhalten lässt, ist Disziplin oder die Angst, aufzufallen und anzuecken, uns zu blamieren oder zu scheitern.

Wo ist mein ganz persönlicher «stärkster Mann der Welt», mit dem ich mich so gerne messen würde? Welches Seil in meinem Leben weckt die Sehnsucht, darauf das Gleichgewicht zu halten und gleichzeitig zu riskieren, herunterzufallen? Pippi Langstrumpf kann gar nicht anders, als am Leben teilzunehmen, wo sie sich dazu eingeladen fühlt. Und sie fühlt sich eigentlich immer eingeladen. Trotz ihres Ungehorsams zerstört sie nicht den sozialen Zusammenhalt. Im Gegenteil: Das Publikum ist von Pippis Interventionen begeistert. Einzig der Zirkusdirektor leidet unter ihrer Mitwirkung, weil sie ihm die Kontrolle über das Spektakel raubt.

 

So lehrt sie uns herrlich erfrischend eine Lektion: Freiheit und Mut sind Zwillinge. Auf dem Weg vom Funktionieren zum entfalteten Menschsein kommen wir an der Notwendigkeit, Mut zu fassen, uns in das Feld der Freiheit vorzuwagen, nicht vorbei.

Zu dieser Erkenntnis sind die beiden Komponistinnen dieses Konzertes, Louise Farrenc und Sofia Gubaidulina, in ihrem Leben ganz bestimmt gelangt. Sie wären nie zu den Künstlerinnen geworden, die sie waren, wenn sie sich in ihren Lebenswelten nicht mutig die notwendigen Freiheiten genommen hätten. Sie erprobten sich in einer Profession, die ihnen ebenso wenig zugewiesen war, wie Pippi die Mitwirkung im Zirkus. Wir möchten Sie an diesem Konzertabend mit Musik der beiden Komponistinnen und Robert Schumanns dazu verführen, die Angst anzuecken, sich zu blamieren, zu scheitern oder nicht zu genügen hinter sich zu lassen und mutig darüber nachzudenken, wo Sie ihre persönlichen Grenzen ausweiten möchten.

 

Der US-amerikanische Präsident Theodore Roosevelt fand dafür bei einer Rede im Frühjahr 1910 in der Sorbonne so wahre Worte:

«Es kommt nicht auf den Kritiker an; nicht auf den Mann, der erklärt, warum der starke Mann gestrauchelt ist oder wie

ein Mann der Tat es hätte besser machen können. Der Lorbeer gebührt dem, der tatsächlich in der Arena steht, dessen Gesicht mit Staub und Schweiß und Blut verschmiert ist; der tapfer strebt; der sich irrt, wieder und wieder scheitert, weil es kein Fortkommen ohne Irrtum und Fehler gibt; der sich tatsächlich bemüht, das Nötige zu tun; der den großen Enthusiasmus und die wahre Hingabe kennt; der für eine Sache, die es wert ist, alles gibt; der im besten Falle schließlich den Triumph einer großen Leistung kennen lernt und im schlimmsten Fall scheitert, weil er Großes gewagt hat, so dass sein Platz niemals bei den kalten, furchtsamen Seelen ist, die weder Sieg noch Niederlage kennen.»

 

Klaus Christa